Mobilität im 21. Jahrhundert

Umweltschonende individuelle Mobilität kommunal ganzheitlich organisieren

1. Situationsbeschreibung

Nach wie vor ist die Attraktivität des motorisierten Individualverkehrs (MIV) in Form des privaten PKW ungebrochen. Gleichzeitig ist der MIV aber einer der Hauptverursacher der Klimaentwicklung. Die sonstigen schädlichen Folgen des MIV bezüglich Stadtplanung, Lärm, Emissionen sind längst belegt.

Obwohl dies alles den meisten PKW-Besitzern durchaus bekannt ist, führen auch überdurchschnittliche Preisschübe wie z. B. im 3. Quartal 2008 kaum zu nennenswerten Verkehrsrückgang und/oder zu deutlich spürbaren Nachfrageverlagerungen hin zu emissionsärmeren PKW. Ob die derzeitige Wirtschaftskrise dauerhaft Verhalten ändert (kleinere Fahrzeuge, weniger Kurzstrecken etc.) ist fraglich.

Die subjektiven Gründe für die weiterhin ungebrochene Attraktivität des eigenen PKW bei der individuellen Verkehrsmittelwahl sind u. a.:

  • Flexibilität und Bequemlichkeit durch ständige Verfügbarkeit
  • (zumindest subjektiv empfundene) Vorteile bei der Reisegeschwindigkeit „Haustür–zu–Haustür“
  • PKW als Statussymbol bzw. Ausdruck von Individualität
  • Unklares Bewusstsein bezüglich der realen Kosten eines PKW
  • Geringschätzung des Angebots an alternativer Mobilität (nicht immer nur aus Unwissenheit)
  • Sicherheitsbedenken gegenüber dem ÖPNV
  • Als hoch empfundene Zugangshürden für alternative Mobilität

Dies führt nach wie vor zu einer täglichen „Abstimmung mit dem Lenkrad“ zugunsten des MIV. Das Kostenargument sollte aber nicht überbewertet werden, da auch dann in vielen Fällen die Verkehrsmittelwahl zugunsten des MIV ausfällt, wenn die tatsächlichen Kosten bekannt sind. Der unter Umständen höhere Preis des MIV wird dann zugunsten eines subjektiv empfundenen „Komfortgewinns“ (Flexibilität, Reisegeschwindigkeit, Statusdemonstration etc.) zum Teil bewusst in Kauf genommen.

2. Neue Aufgaben und Handlungsoptionen für Kommunen

(Unter den Begriff „Kommunen“ sind auch Landkreise sowie die politische Region Stuttgart mit erfasst)

Die Sicherung einer lokalen und regionalen Mobilität zu bezahlbaren Preisen für alle Bevölkerungsschichten ist gesetzliche Kernaufgabe der kommunalen Selbstverwaltung. Dies kommt u. a. zum Ausdruck durch die kommunale Aufgabenträgerschaft für den ÖPNV sowie die grundsätzliche Zuständigkeit für die kommunale Verkehrsinfrastruktur.
Die Wahrnehmung dieser Aufgabe durch die Kommunen war jedoch bisher durch mehrere falsche strategische Ansätze eingeschränkt:

Grundsatz der „freien Wahl des Verkehrsmittels“

  • dadurch fortwährende Konkurrenz von ÖPNV und Strassenbau
  • Geh- und Radwegebau als „Abfallprodukt“  der Strassenplanung
  • Beschränkte Finanzmittel für umweltfreundliche Mobilität im Vergleich zum MIV
  • Fehlende Planung/Steuerung von weiteren umweltfreundlichen Mobilitätsangeboten (Fahrradverleih, Car-Sharing)
  • Planung der Infrastruktur aufgrund der Bedürfnisse und Möglichkeiten des MIV („reines Wohngebiet“,  Einkaufen auf der „grünen Wiese“)

Kommunen können nicht durch ihre Politik alle subjektiv empfundenen Vorteile des MIV kompensieren. Sie können aber durch ein strategisches Umdenken hin zu einer ganzheitlichen Mobilitätsplanung erhöhte Anreize zur Reduzierung des MIV schaffen, die bei der Verkehrsmittelwahl eine Rolle spielen:

  • Vernetzung und Koordinierung der alternativen Mobilitätsangebote
  • Vorrang für alternative Mobilitätsangebote bei Konflikten mit dem MIV
  • Konsequente vorrangige Berücksichtigung der alternativen Verkehrsangebote bei der Stadtplanung von Anfang an.

2.1 Vernetzung und Koordinierung der alternativen Mobilitätsangebote

So wichtig ein gut ausgebauter ÖPNV auch als „Rückgrat“ alternativer Mobilität ist, befriedigt er doch längst nicht alle Mobilitätsbedürfnisse. Je nach Bedarf gehören auch eher individuelle Angebote wie z. B. Car-Sharing und Fahrradverleih zu einem Konzept, dass Mobilität ohne privaten PKW für möglichst viele garantiert.

Eine Kommune hat zuerst die Aufgabe, Mobilitätsbedarf abhängig von Siedlungsgröße und –struktur zu ermitteln. Dies umfasst nicht nur den internen Verkehr, sondern auch den ein- und auspendelnden Verkehr. Der Bedarfsermittlung muss dann eine Angebotsentwicklung folgen, die sowohl bestehende Angebote berücksichtigt und ggfs. weiterentwickelt als auch neue Angebote ergänzt.

Zwingende Vorraussetzung eines flächendeckenden umweltschonenden Mobilitätsangebotes ist der Wechsel von der Nachfrage- zur Angebotsorientierung mit flankierenden städtebaulichen und verkehrspolitischen Maßnahmen (s.u.). Die Bereitstellung von Standorten für Car-Sharing oder Fahrräder als auch ein einheitliches von der Kommune koordiniertes Zugangssystem mit möglichst einfachen und abgestimmten Tarifen sind integraler Bestandteil eines alternativen Mobilitätsangebotes.

Eine weitergehende Vernetzung mit weiteren Mobilitätsanbietern wie z. B. Taxi und/oder kommerziellen Mietwagenfirmen kann im Einzelfall durchaus sinnvoll sein.

Leider gibt es hierzu in Deutschland erst vereinzelte Ansätze, die jedoch noch nicht ganzheitlich angelegt sind, sondern nur einzelne Bestandteile umfassen.

In welcher Organisationsform diese Koordinierung geschieht, ob die Kommune nur als Koordinator oder ganz oder teilweise auch als Unternehmer agiert, ist nachrangig. Entscheidend ist, dass die Kommune die politische Kontrolle über Umfang, Bedingungen und Preise der Angebotserstellung besitzt. So kann z. B. eine Übernahme des örtlichen Car-Sharing-Anbieters durch den kommunalen Verkehrsbetrieb im Einzelfall sinnvoll sein, dies ist jedoch keine zwingende Voraussetzung.

Bei dieser Gelegenheit sei darauf hingewiesen, dass die Preise für den ÖPNV nicht ausschlaggebend für die Nutzung bei großen Teilen der potentiellen Nutzer sind. Es gibt keinerlei nachweisbaren Zusammenhang zwischen ÖPNV-Preisen und ÖPNV-Nutzung bei den meisten Bevölkerungsschichten. Dies enthebt aber die Kommunen nicht von der Verantwortung, auch bei ärmeren Teilen der Bevölkerung Mobilität sicherzustellen, z. B. durch Sozialtarife.

2.2 Vorrang für alternative Mobilitätsangebote

Die Akzeptanz eines alternativen Mobilitätsangebotes bei der individuellen Verkehrsmittelwahl hängt entscheidend davon ab, dass die Kommunen diesem entsprechende Priorität einräumen.
Dazu gehört an erster Stelle der Vorrang für den ÖPNV bei Konflikten mit dem MIV. Dies umfasst sowohl die Bevorzugung bei der Nutzung des Verkehrsraumes (eigener störungsfreier Bahnkörper bzw. Busspuren) als auch Vorrang im Verkehrsfluss durch eigene Signal- bzw. Ampelschaltungen. Trotz aller Lippenbekenntnisse zum „Vorrang für den ÖPNV“ ist dies in kaum einem System in Deutschland wirklich konsequent umgesetzt. Gerade an Hauptknotenpunkten des ÖPNV mit dem MIV zieht auch heute noch der ÖPNV in der Praxis „den Kürzeren.“

Zu einem integrierten Mobilitätssystem gehört aber auch hier mehr als nur Busspuren und Ampelschaltungen. Ein derartiges System benötigt auch eine klare Priorisierung, wenn es um Parkraum für Car-Sharing-Fahrzeuge geht als auch um Standflächen für Fahrradstellplätze. Für Fahrräder ist auch ein Konzept für gefahrlose Wege notwendig, das weniger auf Prestigewege für einige wenige „Hardcore-Radler“ setzt, sondern die Alltagsbedürfnisse (Arbeit, Schule, Einkaufen, Freizeit) – abhängig von topographischen Gegebenheiten – berücksichtigt. Auch Fußgänger haben als Teil dieses Mobilitätskonzeptes ein Recht auf wesentlich stärkere Berücksichtigung ihrer Bedürfnisse – gerade auch in Konfliktpunkten mit dem MIV.

Natürlich sind auch Beschränkungen des MIV nötig, um eine Reduzierung des MIV zu erreichen. Dies kann sowohl durch Voll- oder Teilsperrungen oder aber durch Anwendung des in den Niederlanden entwickelten Konzeptes des „shared Space“ erreicht werden. 

3. Stadtplanung

Die Stadtplanung muss sehr viel stärker als bisher Wegebeziehungen und Verkehrsvermeidung als Ziele berücksichtigen. Das „reine Wohngebiet“ mit seiner absoluten Trennung zwischen Wohnen einerseits und Einkaufen, Arbeiten andererseits muss als städtebauliche Fehlentwicklung der Vergangenheit angehören. Dass in einem „reinen Wohngebiet“ Anlieger auch öffentliche Infrastruktureinrichtungen wie z. B. Kindergärten, Schulen oder Einrichtungen der Altenhilfe verhindern, einschränken oder zumindest stark verzögern können, ist nicht akzeptabel.

Auch der Einkaufsmarkt auf der „grünen Wiese“ muss zum Anachronismus werden, zumindest soweit nicht automatische eine entsprechende Erreichbarkeit mit umweltschonenden Verkehrsmitteln mit eingeplant wird.

Bei allen Neuplanungen sowie wesentlichen städtebaulichen Veränderungen muss der Grundsatz der Verkehrsvermeidung von Anfang an wesentlicher Bestandteil der Planung sein. Den Bedürfnissen umweltschonender Mobilität wie z. B. ÖPNV-Anbindung, Stellplätze für Car-Sharing oder Fahrräder sowie attraktiver Fußwege muss in jeder Planung vorrangig berücksichtigt werden.

Eine besondere Herausforderung in Sachen Verkehrsvermeidung stellt die aktive kommunale Förderung von lokalen Zentren (in größeren Städten auch Stadtteilzentren) dar, die zumindest die Grundbedürfnisse der Wohnbevölkerung ausreichend decken können. Die bisher angewandten Mittel des Planungsrechts sowie des Orts- bzw. Stadtteilmanagements haben sich in vielen Fällen als unzureichend erwiesen. Hier sind neue Überlegungen notwendig, die Versorgung im Nahbereich zu sichern. Dabei sollte auch eine direkte finanzielle Förderung von Ansiedlung und evtl. laufendem Betrieb von Unternehmen keinen Denkverboten unterliegen.

4. Vorteile für die Kommunen

Die Vorteile für Kommunen, die mit einem ganzheitlichen Konzept der Verkehrsvermeidung und der umweltschonenden Mobilität den MIV deutlich reduzieren, liegen mittel- und langfristig auf der Hand.

Zwar fallen zuerst Kosten an, da die Kommune ggü. ihren bisherigen sowie potentiellen neuen Einwohnern in „Vorleistung“ treten müssen, sei es durch Zuschüsse für die umweltschonende Verkehrsinfrastruktur, durch Investitionen zum Um- bzw. Rückbau der Verkehrswege oder auch durch Fördermaßnahmen für die Versorgung im Nahbereich.

Dem stehen aber direkte und indirekte materielle Gewinne nicht nur für die Einwohner, sondern auch für die Kommune selbst gegenüber. Jede Kommune, die es z. B. schafft, den Verkehrslärm und sonstige verkehrsbedingte Emissionen durch Verkehrsverminderung bzw. -vermeidung zu deutlich reduzieren, gewinnt an Attraktivität.

Eine Verkehrsvermeidung wirkt sich aber auch direkt auf die Haushalte aus, da Aufwendungen zum Erhalt bzw. Bau von Verkehrsinfrastruktur – einer der größten Etatposten jedes kommunalen Haushalts –  reduziert werden können.