Rede: Zum Haushalt 2021

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Rede zur Haushaltseinbringung für das Jahr 2021 von Christoph Ozasek, Fraktionsvorsitzender von DIE LINKE/PIRAT in der Regionalversammlung am 21.10.2020.


 

Frau Regionaldirektorin,

Herr Vorsitzender,

werte Kolleg*innen,

 

hätten Sie vor einem Jahr geahnt, dass die Region Stuttgart 2020 von einer schweren Krise erschüttert wird, die unsere Sicherheit, unser Leben und unseren Lebensstandard akut gefährdet?

Nein, das ist keine rhetorische Frage.

Denn zumindest für meine Fraktion kann ich sie klar mit „Ja“ beantworten. Mit der fortschreitenden Zerstörung der Ökosysteme verkürzt sich die Sequenz globaler Krisen. Die weltweite SARS-Covid-19-Pandemie ist der Missachtung planetarer Überlastungsgrenzen geschuldet. Letztes Jahr mahnte ich: „Wird heute kein präventiver Strukturwandel eingeleitet und der ökologische Rucksack radikal abgeschmolzen, so sind Stabilität und Wertschöpfung in unserer Region akut gefährdet.“

Doch was erleben wir heute? Disruption. Und das aus einem einzigen Grund: Zehn fette Jahre liegen hinter uns. Zehn Jahre fette Gewinne und wirkungslose Strukturdialoge. Zehn Jahre des Zögerns in der Klimapolitik.

Die Stuttgarter Zeitung titelte vor einigen Wochen:

„Autobauer entsetzt über EU-Klimapläne“. Ein Branchenkenner prophezeit „…das Ende der deutschen Automobilindustrie, wie wir sie kennen.“ Was für eine Offenbarung!

Wenn wir nicht wollen, dass künftig Museumsradwege an Industriebrachen vorbeiführen, müssen wir der sozial-ökologischen Transformation eine starke Dynamik verleihen. Nicht länger Gewinne für die, die viel haben, sondern der Nutzen für alle muss im Zentrum unseres Wirtschaftens stehen.

Was bedeutet das?

  1. Eine Zukunftsregion erfindet sich von innen heraus neu, nicht auf fruchtbarem Acker! Diese Angebotsplanung war und ist der falsche Ansatz für eine Wirtschaft im Wandel. Deshalb muss der Prozess zur strategischen Ausweisung von Vorhalte-Standorten beendet werden. Gebot der Stunde ist das Flächenrecycling.
  2. Die Zukunft unserer Region liegt im GreenTech-Sektor und der Wissensökonomie. RS Reloaded muss nun in eine zielgerichtete Förderagenda übergehen, insb. für Start-Ups und die Kreativwirtschaft. Vor allem gilt es, den mit voller Wucht getroffenen Kreativschaffenden wirksame Hilfe zukommen zu lassen. Denn nur eine Kulturregion ist eine Zukunftsregion.
  3. Die Corona-Krise ist ein Katalysator für die verpasste Digitalisierung. Danke CDU! Angesichts eurer Fehlentscheidungen kriechen hierzulande noch immer Daten durch Kupferleitungen, und im Klassenzimmer steht der Overheadprojektor. Glasfaser ist die ökonomische Lebensader der Zukunft. Auf ihr muss ein regionaler Innovationsraum aufgespannt werden, der digitale Souveränität, Bildung und Teilhabe stärkt. Metropolen wie Wien und Barcelona beweisen, dass dieser Megatrend nicht im BigData der Internetkonzerne enden muss. Deshalb wollen wir zügig eine Smart-City-Agenda für unsere Region in Gang setzen.

Doch nicht nur unsere Wirtschaft muss sich wandeln. Auch unsere Kulturlandschaft. Lange schon fordert DIE LINKE/PIRAT eine wirksame Klima- und Bodenschutzagenda. Ginge es nach uns: wir stünden bereits mitten im Prozess einer strategischen Fortschreibung des Regionalplans, würden ausgehend von Klimarisiken Grünzüge neu zonieren, sukzessive Multigefahrenkarten einbetten und die Widerstandsfähigkeit hinsichtlich rapide steigender Elementarrisiken stärken.

Doch zumindest läuft nun die Fortschreibung des Klimaatlas und die Kommunalberatung an. Gleiches gilt für den nahräumlichen, sanften Tourismus, der in Folge der Pandemie endlich im Tourismusmarketing angekommen ist. Diese gewinnbringende Entwicklung für unsere Kommunen wollen wir stärken.

Deutschland muss bereits 2035 klimaneutral sein, um den Verpflichtungen von Paris nachzukommen. Der Sachverständigenrat der Bundesregierung mahnt zum entschlossenen Umsteuern, um die Klimakatastrophe abzuwenden.

Doch eine breite Mehrheit der Regionalversammlung liegt immer noch träge in der klimapolitischen Hängematte und glaubt, man könnte diese Menschheitsaufgabe entspannt im autonom fahrenden 500PS Stadtgeländewagen aussitzen.

Währenddessen verdorren unsere Felder und Wälder. Unsere Fraktion schlägt vor, zusammen mit Bauern- und Umweltverbänden, und den hiesigen Hochschulinstituten mittels klimaregulierender Agroforst-Systeme auf die fortschreitende Erosion der Böden zu reagieren. Denn Boden ist eine schwindende Lebensgrundlage.

Die Studie „Mobilität in Deutschland“ legt schonungslos offen, woran unsere Region krankt: 70% der Verkehrsleistung erfolgt über den Autoverkehr. Nie gab es pro Kopf so viele Kraftfahrzeuge wie heute, Tendenz steigend. Walter Rogg hat nachgerechnet: Das sind unvorstellbare 15,3 Milliarden gefahrene PKW-Kilometer pro Jahr.

Wollen wir eine Neue Mobilitätskultur voranbringen, darf gerade jetzt der Tarifzonenreform keine massive Tariferhöhung folgen, wie sie Kollege Kuhn und die Landräte durchdrücken wollen. Sondern eine tiefgreifende Reform des Tarifsystems. Denn wer jetzt den ÖPNV-Nutzer*innen das Abo madig macht, beschädigt langfristig die Finanzierungsbasis des VVS und fördert den klimaschädlichen Autoverkehr. Meine Fraktion will den Impuls von Verkehrsminister Hermann aufgreifen und eine steuerfinanzierte Lösung suchen. Wir schlagen zudem vor, durch personalisierte Treue-Boni die Bindung an das VVS-Abo zu stärken.

Im Zuge der VVS-Tarifklausur muss endlich - wie von uns 2019 beantragt - eine Lichtung des Tarifdschungels durch Verschmelzung bestehender Sondertarife für Schüler*innen, Auszubildende, Studierende, Senior*innen und Bezieher*innen von Hilfeleistungen, zu einem einheitlichen 365-Euro-Jahresticket erfolgen. Eine starke Marke mit Signalwirkung. Genauso wie das Erfolgsmodell RegioRad, das wir in die Fläche bringen wollen. Denn nichts trägt mehr zum Klimaschutz bei wie das Fahrrad.

Die SSB führt 2021 den Nachtbusverkehr ein und weitet den innovativen On-Demand-Dienst Flex aus. Ein Verkehrsangebot, das der Lebensrealität und dem Puls einer Metropolregion entspricht. Deshalb erneuern wir unsere Forderung nach einem echten S-Bahn-Nachttakt. Wir sind gut beraten, die Nacht-S-Bahn zügig aufs Gleis zu setzen. Denn soviel ist sicher: Auf den Impfstoff folgt der Freiheitsdrang.

Werte Kolleg*innen, milliardenschwere Tunnel- und Straßenbauprojekte sind meist „planerische Fiktion“. Die Zukunft der Städte liegt in der Transformation. Der „Neue Stadtraum B14“ zeigt auf, wie die klima-zerstörerische 10-spurigen Autobahn im Herzen Stuttgarts zu einem urbanen Lebensraum transformiert werden kann.

Wo heute 100.000 Fahrzeuge das Leben in Lärm ersticken, werden künftig schattenspendende Bäume zum Verweilen, und Wegenetze für das zu Fuß Gehen und das Fahrrad zur selbstaktiven Mobilität einladen.

Unsere Region ist deshalb so hart von der Krise getroffen, weil kein präventiver Strukturwandel und Stadtumbau passiert ist, weil der Klimaschutz vernachlässigt wurde, der Wohlstand noch immer vom Auto abhängt, und analoges Denken die Wissensgesellschaft behindert.

Deshalb ist die Krise auch eine Chance. Wenn wir sie ergreifen.