Rede: Die Bedeutung Europas für die Region

Christoph Ozasek

Rede in der 21. Regionalversammlung am 26.9.2018

zu TOP 1: Die Bedeutung Europas für die Region Stuttgart


Herr Vorsitzender,
Frau Dr. Schelling,
werte Kolleginnen und Kollegen,

in vielfältiger Weise prägt das Projekt Europa das Leben der Menschen, ihre Identität und ihre Lebensweise. 73 % der Bürgerinnen und Bürger in unserer Region fühlen sich mit Europa verbunden. Ein deutlicher Anstieg, und Mut-machender Gegentrend im Vergleich zum wachsenden Skeptizismus, Nationalismus und Rassismus in anderen Teilräumen der EU. Aus einem grundsätzlichen Zuspruch zu Europa ist jedoch noch lange kein Zuspruch zur Europäischen Union abzuleiten.

Vor 10 Jahren erschütterte die Finanzmarktkrise den Glauben an beständiges Wachstum, Stabilität und Solidarität unter den Mitgliedsstaaten. Die EU als Ordnungsrahmen versagte. Ein Vertrauensverlust, der bis heute nachwirkt.

Nicht Menschen wurden für systemrelevant erklärt, sondern Banken und die Finanzmärkte. Die Mittelmeeranrainerstaaten sind in der Folge durch brutale Spardiktate in eine strukturelle Krise gezwungen worden. Staatsverschuldung, Massenarbeitslosigkeit, Verarmung, der Abbau sozialer Rechte waren die Folge. Die europäische Kohäsionspolitik wurde kurzerhand aufgekündigt.

Dass heute 89 % aller in unsere wirtschaftsstarke Region zugezogenen Menschen aus diesen geschwächten EU-Volkswirtschaften stammen zeigt, dass unser Wirtschaftsstandort an dieser Krise gesundet, sich den Fachkräftebedarf sichert, um seine Vorreiterrolle zu erhalten. Anstatt also auf die Angleichung der Lebensverhältnisse hinzuwirken, bluten andere Regionen aus.

Dabei ist der europäische Regelungsrahmen heute wichtiger denn je: Durch die anhaltende Niedrigzinsphase sind Spekulationsprozesse in Boden und „Betongold“ sprunghaft angestiegen. Immobilien-Heuschrecken grasen die überhitzten Wohnungsmärkte der Ballungsräume ab, treiben die Mieten in die Höhe, fahren mit diesem Geschäftsmodell Milliardenprofite ein. Für eine Stadtregion unter Wachstumsdruck, wie unsere, ist diese Entwicklung Gift. Die EU täte gut daran daran, mitzuwirken diesen sozialen Sprengsatz zu entschärfen.

Mit dem „Brexit“ erschüttert nun erstmals der Austritt eines Mitgliedslandes den europäischen Integrationsprozess. Folge einer wachsenden Anti-Europäischen-Tendenz, die sich im steilen Zuspruch rechtsextremer und rechtspopulistischer Parteien ausdrückt, aber auch in Gleichgültigkeit gegenüber den unzähligen Toten im Mittelmeer und der Versklavung von Flüchtlingen an den EU-Außengrenzen.

Die jüngsten Wahlen in Tschechien, Italien und Österreich, die Regierungsbildungen unter Beteiligung populistischer und separatistischer Parteien unterstreichen diese Entwicklung. Kurzum: Eine tiefgreifende Legitimationskrise, in deren Folge mehrere Vertragsverletzungsverfahren u.a. gegen Polen und Ungarn eingeleitet sind, um gegen die Missachtung der EU-Verträge vorzugehen.

Wie steht es angesichts dieser trüben Aussichten um die Region und Europa. Unbestritten profitieren wir von zahlreichen Programmen, akquirieren Fördermittel und organisieren projektbezogenen Wissenstransfer. Die gemeinsame Interessenvertretung in einem metropolregionalen Kontext gilt es aus unserer Sicht weiter zu vertiefen.

Wir schlagen daher vor, das Europabüro in der Brüsseler Landesvertretung als Schnittstelle zu den EU-Institutionen unter Beteiligung der Partner in der Metropolregion weiterzuentwickeln. Dieses Thema sollte im Zusammenhang mit dem Metropolkongress Ende Januar erörtert werden.

Zur Wechselwirkung zwischen Europa und der Region Stuttgart gehört aber auch die unbequeme Wahrheit, dass die Exportorientierung unserer hiesigen Wirtschaft, und der damit zusammenhängende Handelsbilanzüberschuss in die EU einem Export von Staatsverschuldung und Arbeitslosigkeit gleichkommt. Das gilt insbesondere für die Euro-Zone. Über diese Disparitäten, von Massenarbeitslosigkeit und entvölkerten Landstrichen in Südeuropa wird nicht gesprochen, in ihr liegt jedoch die größte Sprengkraft.

Deshalb regen wir an, strategische Partnerschaften mit strukturschwachen Räumen in Südeuropa zu etablieren, beispielsweise mit den von verheerenden Feuerstürmen betroffenen Regionen in Griechenland oder Portugal, um diese nachhaltig zu stärken und so einen Angleichungsprozess einzuleiten.

Auf die Krise der EU gibt es nur eine Antwort - Europa braucht einen neuen, tiefgreifenden Integrations- und Demokratisierungsprozess. Die EU muss Friedensstifterin, Garantin für sozialen Ausgleich, und Motor sein für die kollektive Bewältigung globaler Herausforderungen, wie der des Klimawandels, der Migration, der Urbanisierung und des notwendigen Strukturwandels.

Wer Europa liebt, kann nicht wollen, dass die EU bleibt wie sie ist.